Heiden guckt „16 Uhr 50 ab Paddington“

Viermal ging Margarete Rutherford als Miss Marple auf Mörderjagd, viermal mit Mr. Stringer an ihrer Seite, viermal in Schwarzweiß. 16 Uhr 50 ab Paddington, Der Wachsblumenstrauß, Vier Frauen und ein Mord und Mörder Ahoi! In meiner Generation scheint es nur wenige zu geben, denen diese Filme völlig fremd sind. Ich selbst habe sie in meiner Kindheit gleich mehrfach gesehen, allein oder mit der Familie. Da ich den kniffligen Plots kaum folgen konnte, verschwammen die Geschichten für mich zu einem einzigen Abenteuer. Allein der Name Miss Marple versprach gruslige Begegnungen, düstere Landhäuser, verschrobene Familien und stets Robert Morley, der tatsächlich nur in einem der Filme mitspielte.

Später, als ich Agatha Christies Romane entdeckte, lernte ich auch die einzelnen Fälle voneinander zu unterscheiden. Neben dem Landsitz der Familie Ackenthorpe gab es nämlich noch das Reiterhotel Gallop, eine Bühne samt zwielichtiger Schauspieler und das Schlachtschiff HMS Battledore. Mit jeder ausgestrahlten Wiederholung schälte sich aus dem Quartett ein weiteres, farbenfrohes Detail, und eines schönen Tages tauchte sie dann auf: die MAUER in 16 Uhr 50 ab Paddington.

Am Anfang des Films wird Miss Marple Augenzeugin eines Mordes. Sie beobachtet von einem Zugabteil aus, wie ein Mann in einem vorbeifahrenden Zug eine Frau erdrosselt. Angespornt durch ihren Sinn für Gerechtigkeit und ihrer unstillbaren Neugier ermittelt Miss Marple den Ort, an dem der Mörder die Leiche  aus dem Waggon geworfen hat. An besagter Stelle, also direkt am Bahndamm grenzt eine Mauer, die das Grundstück der Familie Ackenthorpe vor neugierigen Blicken zu schützen versucht.

Im Grunde steht jede Heldin, jeder Held irgendwann vor der Wahl, entweder eine Mauer zu erklimmen oder den Rückzug anzutreten. Soll man sich auf das Abenteuer einlassen? Soll man ausgerechnet dort Fragen aufwerfen, wo Nachbohren unerwünscht ist? Und ignoriert man die Warnungen der Liebsten, der Mitmenschen oder gar der ärgsten Feinde? Kriminalliteratur lebt von dieser Mauer und bei professionellen Ermittler:innen gehört sie bestenfalls zum Berufsethos. Im Fall von Miss Marple verhält es sich jedoch anders. Sie muss weder ermitteln, noch im Leben anderer herumschnüffeln und sich ungeahnten Gefahren aussetzen. Miss Marple muss gar nichts – es sei denn, wir betrachten sie als Opfer ihrer eigenen Neugier.

Im Schatten der Mauer meint ihr Gefährte, der stets loyale Mr. Stringer, dann auch: „Miss Marple, gehen wir lieber. Ich habe so ein komisches Gefühl.“ (O-Ton in Übersetzung: „Miss Marple, wir sollten uns zurückziehen.“) Natürlich weiß jeder Marple-Fan, dass ein solcher Satz auf taube Ohren trifft. Mr. Stringer ist in dieser Situation die Stimme der Vernunft, eine Mahnung an alle Normalbürger:innen, sich vor kriminalistischen Abenteuern fernzuhalten. Nicht weniger deutlich appellieren Mauern an die Vernunft. Dahinter verbirgt sich etwas, das nicht für fremde Augen bestimmt ist, eine Welt, die sich von der „normalen“ Welt abschirmt. Sei also vernünftig und kehre schleunigst um! Miss Marples Reaktion auf so eine Warnung ist mustergültig: „Ich möchte gern über die Mauer schauen“, bemerkt sie. „Könnten Sie mich hochheben?“

Daraufhin stellt sich Mr. Stringer äußerst ungelenk und tölpelhaft an, was Miss Marples Nachdruck noch verstärkt. Sein Ungeschick ist ein letzter Boykottversuch vonseiten der Vernunft, als würde ein Elternteil behaupten, die Flasche Cola ließe sich nicht öffnen, um das Kind am Trinken zu hindern.

Miss Marple ist jedoch kein unmündiges Kind.

Sie ignoriert nicht nur die personifizierte Vernunft, sie benutzt sie darüber hinaus für ihre eigenen Zwecke. Von Mr. Stringer verlangt Miss Marple eine gebückte Haltung und einen Steigbügel, damit sie ins verbotene Land schauen kann. Auf der anderen Seite erspäht sie einen finster dreinschauenden Mann samt Hund. Was darauf folgt, macht aus einer guten Szene eine wirklich große: Noch ehe Mr. Stringer einen Blick über die Mauer werfen kann, treten sie auf Geheiß von Miss Marple den Rückzug an. Manche Orte werden die ewig Vernünftigen niemals zu sehen bekommen. Fortan muss sich Mr. Stringer mit ihren Berichten zufrieden geben, was in der Reihe ein wiederkehrendes, obendrein spaßiges Element ist.

Natürlich sind das keine Gedanken, die mich während meiner Kindheit beschäftigt haben. Heute glaube ich, dass jeder Zuschauer und jede Zuschauerin über einen intuitiven Alarm für eine solche Mauer verfügt. Falls dieser Alarm eingerostet ist, fällt das nicht weiter ins Gewicht, denn in feinster 60er Jahre Manier warnt uns Mr. Stringer. „Miss Marple, ihre Überlegungen enden immer in einem gefährlichen Plan.“ (Im O-Ton noch dramatischer: „Miss Marple, what ever it is … no, no, no!“)

Eine Frage, die sich mir unlängst auftat: Erfüllt die Mauer überhaupt noch ihren Zweck beim mehrmaligen Sehen? Ja, sage ich. Ja und wieder Ja.

Sobald Miss Marple durch das Haupttor die Mauer passiert, sind wir vor der Mattscheibe eingestimmt. Was früher einer Warnung gleichkam – Achtung, jetzt wird’s gefährlich für unsere Heldin -, ist nun eine Einladung zum wohligen Verweilen. Gute Filme zeichnen sich dadurch aus, dass das wiederholte Gucken sie nicht langweilig oder weniger interessant werden lässt. Lediglich das Gefühl, das wir beim Sehen empfinden, verändert sich: Aus Anspannung kann Entspannung werden, aus Neugier eine bequeme Vertrautheit. Wenn Miss Marple vor dem alten Herrenhaus dem Taxi entsteigt, ertönt aus dem Hintergrund das Pfeifen eines Zuges. Einst war dieses Signal für mich ein Zeichen der Bedrohung. In anderen Szenen, zum Beispiel bei ihrer nächtlichen Exkursion, wurde ich allein durch das Pfeifen daran erinnert, dass hier ein grausames Verbrechen geschehen ist. Miss Marple ist nämlich nicht hier, um die Familie Ackenthorpe zu bewirten oder einen vorwitzigen Jungen zu bespaßen. Das Warnsignal der Lokomotive fungiert als erhobener Zeigefinger und somit als Ersatz für den verantwortungsvollen Mr. Stringer.

Heute verführen mich diese bedrohlichen Szenen zu Gemütlichkeit und Nostalgie. Genau dieses Wohlbehagen macht es mir wiederum möglich, andere interessante Bilder zu entdecken, vielleicht stärker auf das Schauspiel oder die Kulisse zu achten oder mich am Hintersinn einiger Dialoge zu erfreuen.

Spoilerwarnung!

Am Ende des Films erscheint die Mauer ein letztes Mal, allerdings verbleibt sie dezent im Hintergrund. Außerdem wird Miss Marple nicht von einem anonymen Taxi vom Anwesen der Ackenthorpes chauffiert, sondern von Mr. Stringer persönlich. Die Gefahr ist gebannt und ihr vernünftiger Gefährte wagt sich in das verbotene Land. Die Mauer wirkt nun nicht mehr bedrohlich, dient ebenso wenig als Warnung und anstelle der Zugpfeife hören wir das Scheppern von Konservendosen, die der Junge an die Stoßstange von Mr. Stringers Autos befestigt hat.

Spoilerende!

Das Miss Marple-Quartett entstand in den Jahren 1961 bis 1964 unter der Regie von George Pollock. Jeder der Filme besticht durch einen eigenen Charme. Gewiss lässt sich beobachten, dass die Dramatik zugunsten des Humors abbaut und dieser Humor heute teilweise verstaubt anmutet. Aus der Reihe ist 16 Uhr 50 ab Paddington der geradlinigste Film; sämtliche Merkmale, die das Quartett auszeichnen, sind hier bereits voll entwickelt. Kurzum: Der Film bleibt auch fernab von Spannung und Rätselspaß ein lieb gewonnenes Kleinod in der Krimilandschaft.