Heiden liest „Der Todeswirbel“ Part 2

In diesem zweiten Teil widme ich mich wieder Rosaleen Cloade, einer Figur aus Agatha Christies Roman Der Todeswirbel. Vor Spoilern sei hier – genau wie in Part 1 – gewarnt.

Rosaleen Cloade verlor vor dem Krieg ihren ersten Mann Robert Underhay und später während des Krieges auch ihren zweiten. Gordon Cloade kam bei einem Bombenanschlag ums Leben. Da sie die Alleinerbin seines Vermögens ist, begegnet die Familie Cloade ihr mit Missgunst. Über weite Strecken des Romans lernte ich Rosaleen nur anhand der Sichtweise dieser Figuren kennen. Naiverweise glaubte ich, durch deren Äußerungen ein präzise gezeichnetes Bild der jungen Frau zu erhalten. Das war wohl mein erster Trugschluss. Bald darauf hegte ich die Hoffnung, dass Rosaleen sich als eiskalte Mörderin entpuppen würde. Ein Gefühl hämischer Vorfreude stieg in mir auf. Und hier offenbarte sich dann mein zweiter Trugschluss. Denn Agatha Christie führte mich gehörig an der Nase herum. Rosaleen lud zwar Schuld auf sich, aber einen Mord hatte die Frau nicht zu verantworten. Als hätte es nicht genügt, meine Hoffnung zunichte zu machen, verhöhnte die Autorin sogar meinen Verdacht: Rosaleen fällt selbst einem Mordanschlag zum Opfer.

„Der Todeswirbel“, Scherz Verlag

Was in Warmsley Vale und zuvor in London geschehen war, vermochte nur ein Mensch aufzuklären: Unserer eierköpfiger Detektiv mit den kleinen grauen Zellen.

Zum einen ermittelt Poirot, dass die Ermordete weder Rosaleen Cloade noch Rosaleen Underhay heißen konnte. Ja, die Frau, die den Argwohn ihrer Mitmenschen heraufbeschworen hatte, war keinesfalls mit Robert Underhay und ebenso wenig mit Gordon Cloade verheiratet gewesen. In Wirklichkeit lautete ihr Name Eileen Corrigan und sie hatte als Hausmädchen im Hause Cloade gearbeitet. Zum anderen hatte sie ein Liebesverhältnis mit David Hunter, ihrem angeblichen Bruder. Dessen Schwester, das heißt Gordon Cloades echte Gattin, verstarb 1944 bei dem Bombenangriff in London. Fortan nahm Eileen Corrigan auf Geheiß ihres Geliebten die Identität der Toten an.

David Hunter hatte die Chance auf ein riesiges Vermögen gewittert, und seine Kaltblütigkeit sollte sich auszahlen. Eileen Corrigan bekam dank der falschen Identität das Erbe ihres vermeintlichen Gatten zugesprochen. Im Nachinein verleiht allein Poirots Enthüllung ihrer schablonenhaften Zeichnung einen Sinn. Da Eileen Corrigan an keiner Stelle schauspielerische Fähigkeiten zugeschrieben werden, lässt sich der Erfolg ihrer Täuschung berechtigerweise in Zweifel ziehen. Warum sollte Familie Cloade einer Amateurin auf dem Leim gehen? Hat die Königin des Kriminalromans etwa beide Augen zugedrückt?

Aber nein! Hier zeigt sich eine Volte, die Agatha Christie auch später in Der Wachsblumenstrauß anwendete. In besagtem Roman nimmt eine Dame die Identität einer anderen Person an und niemanden will das auffallen. Ihre Mitmenschen sehen eben das, was sie sehen wollen. Bedenkenlos nicken sie das Blendwerk ab, solange es ihrem vorgefassten Bild entspricht. In Der Wachsblumenstrauß wird diese Täuschung vollbracht, indem die Dame mit größter Exzentrik auftritt, was letztlich eine ganze Familie hinters Licht führt. Der Roman Der Todeswirbel präsentiert uns hingegen eine andere Variante: Da die Mitglieder der Familie Cloade der jungen Frau zum ersten Mal begegnen, verleiht es Rosaleen (Eileen) die Eigenschaft einer Projektionsfläche. Der Blick der angeheirateten Verwandten ist von Neid und Gier gelenkt. Sofort wird Rosaleen für farblos und eindimensional gehalten. Weil der Roman vorerst keine andere Sichtweise erlaubt, verfiel auch ich diesem trügerischen Bild. Was für ein Mensch die wahre Rosaleen Cloades gewesen war, ist anhand der Geschichte nicht zu ergründen. Sie verstarb bei dem Bombenanschlag und das war’s. Immerhin erhalten wir mehr Informationen über Eileen Corrigan, deren ehemalige Bedienstete:

So recherchiert Poirot, dass die Frau aus dem County Cork stammt. Laut ihrer eigenen Aussage ist sie auf einem irischen Bauernhof aufgewachsen. Sie kennt sich mit der Herstellung von Butter aus und weiß tatkräftig anzupacken. Darüber hinaus ist sie katholischen Glaubens. Gegenüber ihrem Geliebten David Hunter äußert sie gar, dass sie die Leute (Familie Cloade) nicht hassen mag. Der ganze Betrug rührt an ihrem Gewissen. Ihre Triebfeder scheint weder Verbitterung noch Gier, sondern eher die Liebe zu David. Zudem glaubt sie an die Gefahren, die sich ihr durch das Kartenlegen offenbart haben. Vielleicht macht sie das, also Hörigkeit und Aberglauben, tatsächlich zu einer naiven Person – jedenfalls in Christies finsteren Romanwelten aus Lug und Trug.

Die Abschnitte, in denen Eileen Corrigan und David Hunter ungestört sind, erscheinen mir leider unschlüssig. Weshalb verharren die beiden in ihren Rollen? Dieses Verhalten äußert sich in ihren Gesprächen und auch in ihren Gedanken. Offenbar hat sich die Autorin hier zugunsten ihres Twists eine Inkonsequenz erlaubt.

Nachdem man Eileen Corrigan tot auffand, begnügt sich der ermittelnde Inspektor mit einer simplen Erklärung. Es müsse sich um Suizid handeln. Reue und Schuldgefühle hätten die labile Frau zum Morphium greifen lassen. Wieder wird sie zu einer Projektionsfläche anderer Wünsche: Hier nach einem schnell und unkompliziert gelöstem Fall. Aber Poirot widerspricht dem Inspektor in aller Deutlichkeit: „Rosaleen Cloade wurde ermordet!“ Und darauf: „Es ist kompliziert. Sehr kompliziert.“

Der Mörder von Eileen Corrigan (Rosaleen) war in Wirklichkeit ihr Geliebter. David Hunter tauschte das Brom, das Eileen als Schlafmittel einzunehmen pflegte, gegen Morphium. Er selbst hatte in London den Plan mit der falschen Identität ersonnen. Agatha Christies Vorliebe fürs Theaterspielen kommt obendrein ein zweites Mal zum Tragen. So wechselt David das Geschlecht, indem er sich mithilfe von Schminke, Lippenstift und einem Tuch den Anschein einer Frau gibt. „Ich halte mich für einen recht guten Damendarsteller“, würdigt er sein eigenes Talent. Eileen wurde diese Begabung nicht bescheinigt, vor allem nicht von ihrem Gefährten. Über ihren Tod hinaus bleibt sie für ihre Mitmenschen (und ebenso für mich als Leser) eine unverstandene Person.

Der Todeswirbel ist ein düsterer Roman aus einer düsteren Zeit. Hercule Poirot äußert an einer Stelle: „Die Welt ist ein Ort, an dem sich immer schwerer leben lässt – außer für die Starken.“ 1950, also zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Romans, zeichnete Agatha Christie mit Ein Mord wird angekündigt erneut ein Panorama der englischen Nachkriegsgesellschaft. Beide Bücher im direkten Vergleich zu lesen, erweist sich als spannendes Unterfangen.

„Der Todeswirbel“ Verlag Buch und Welt

Ein Manko des Romans will ich hier nicht unerwähnt lassen. Das letzte Kapitel stößt mir genauso auf wie in 16 Uhr 50 ab Paddington Miss Marples Bedauern über die Abschaffung der Todesstrafe. Für Der Todeswirbel erdachte Agatha Christie der einzigen Sympathieträgerin ein unrühmliches Finale. Die Rede ist von Lynn Marchmont, eine Figur, die im Grunde einen eigenen Beitrag verdient. Lynn Marchmond präsentiert sich selbstbewusst, gebildet und bringt Verständnis für Rosaleen Cloade auf. Doch in besagtem Kapitel kniet sie vor dem Mann nieder, der sie zuvor noch zu erwürgen versuchte. Auch wenn die Hintergründe der beiden Frauen unterschiedliche sind, ähnelt Lynn Marchmont in dieser Situation Rosaleen oder eben Eileen. Eventuell wollte Agatha Christie damit auf die Folgen von häuslicher Gewalt hinweisen, eine Leseart, die allerdings reine Spekulation bleibt. Ich selbst empfinde dieses letztes Kapitel als unpassend – vor allem in Hinblick auf Lynn Marchmonts bisherige Charakterzeichnung.

 

Quellen:

Agatha Christie, Der Todeswirbel, Hoffmann und Kampe Verlag 2022

Agatha Christie, Der Todeswirbel, Scherz Verlag 1950

Agatha Christie‘s Poirot, TV-Serie, 2006