Kurzum: Zwei Wendungen machen die Geschichte zu eine meiner Lieblingsstorys aus dem Sherlock Holmes Kanon. Zum einen schickt unser Meisterdetektiv seinen Sidekick allein auf Ermittlung, zum zweiten rügt er ihm im Nachhinein für seine angeblich nutzlosen Bemühungen. O-Ton Holmes: „Sie haben es bemerkenswert schlecht angestellt.“ Die Dynamik, die sich hier zwischen Watson und Holmes entfaltet, schafft es immer wieder, mich zu begeistern.
Der Einstieg ist exemplarisch: John Watson berichtet aus seinen Manuskripten und lenkt von dort aus zu Miss Violet Smith, der einsamen Radfahrerin aus Charlington. Arthur Conan Doyle pflegte seine Geschichten nicht selten auf diese Art zu beginnen. Allein in dem Band Die Rückkehr des Sherlock Holmes finden sich neben Die einsame Radfahrerin noch Der goldene Kneifer und Der zweite Fleck, die ebenso mit einen Blick in Watsons Aufzeichnungen anfangen. Das sollte den Geschichten Authentizität verleihen, was während der Zeit ihrer Veröffentlichungen auch bestens funktionierte. Nicht wenige Leser und Leserinnen hielten Sherlock Holmes für eine real existierende Person.
Was den Einstieg dennoch hervorstechen lässt, ist die Erwähnung von Holmes Fehlschlägen. Meines Erachtens soll dieses Eingeständnis mitnichten auf Holmes Fehlbarkeit hinweisen, sondern vielmehr Watsons Bewunderung aufzeigen. Soll heißen: Auch jene Fälle, die in Unzufriedenheit endeten, vermochten seine Wertschätzung für den Gefährten nicht zu schmälern. Zweifellos zeigt sich hier ein Ausdruck tiefer und über Jahre hinweg gereifter Freundschaft.
Kaum weniger klassisch als der Einstieg präsentiert sich die erste Begegnung zwischen unserem Gespann und der zukünftigen Klientin. Miss Violet Smith ersucht Sherlock Holmes in der Baker Street um Rat. Das weckt Erinnerungen an Das Zeichen der Vier und eine gewisse Mary Morstan. Noch ehe Violet Smith ihre Geschichte erläutern kann, beweist Holmes sein Genie, indem er ihren Beruf anhand winziger Details ermittelt. Auch die Demonstration seiner Fähigkeiten mutet geradezu klassisch an. Miss Violet, ihres Zeichens Musiklehrerin, fährt jeden Samstag mit dem Fahrrad von Chiltern Grange nach Farnham, um dort den Zug nach London zu nehmen. Am Montag kehrt sie auf gleichem Weg zurück. Dabei wird die Frau von einem fremden Mann auf einem Fahrrad verfolgt. Der Mann wahrt gerade so großen Abstand, dass Miss Violet außerstande ist, sein Gesicht deutlich zu erkennen. „Dieser Fall weist in der Tat einige besondere Züge auf“, meint ein freudig erregter Holmes.
Zwei Tage nach dieser Begegnung begibt sich John Watson nach Farnham, an der Grenze zu Surrey. Ja, John Watson tritt seine Reise auf Holmes‘ Geheiß hin allein an. Bereits ein Jahr zuvor, also 1902, schickte Conan Doyle den Doktor ohne Holmes auf Mission. Dieses nicht ganz unbedeutende Stück Literatur trägt den Titel Der Hund der Baskervilles. Ähnlich wie Watson die schroffe Moorlandschaft um Baskerville Hall beschreibt, veranschaulicht er in der Kurzgeschichte das Heideland von Surrey. Für mich ist es immer ein Genuss, wenn Watson (oder Doyle) seiner Fabulierkunst folgt und die Fakten des Falls hinter sich lässt. Wie die kalte Denkmaschine zu den lyrischen Ergüssen steht, dürfte hinlänglich bekannt sein.
Über Charlington Hall sagt Watson: „Das Haus war von der Straße aus nicht zu sehen, aber seine ganze Umgebung sprach von Schwermut und Verfall.“ Darauf heißt es: „Die Heide war mit goldenen Flecken blühenden Ginsters übersät, der im hellen Licht der Frühlingssonne prächtig leuchtete.“ Und selbst in jenen Momenten, in denen Gefahr droht, scheint Watson noch zu feinsinnigen Abschweifungen fähig. „Holmes und ich … sogen die frische Morgenluft ein und erfreuten uns am Gesang der Vögel und dem erfrischenden Frühlingslüftchen.“ Für mich ist Watson nicht bloß ein Mensch, der das Genie seines Freundes bestaunt, sondern eben auch ein Dichter. Einer, dessen Augen sich weder vor lichter noch vor düsterer Herrlichkeit verschließen wollen – oder gar können. Bisweilen scheinen seine Abschweifungen eine gehörige Portion Naivität zu offenbaren. Vielleicht ist das Staunen des Doktors das eines Kindes.
Sobald Watson wieder in der Baker Street ist, quittiert der Meisterdetektiv dessen Bericht keineswegs mit Applaus. Ganz im Gegenteil. „Sie haben es bemerkenswert schlecht angestellt“, fährt Holmes ihn an.
„Was hätte ich den tun sollen?“, verteidigt sich Watson tapfer.
Daraufhin zerreißt Holmes die Bemühungen seines Freundes mit knappen Argumenten. Er fragt ihn direkt: „Was haben wir durch Ihren Ausflug gewonnen? Die Gewissheit, dass die Geschichte des Mädchens stimmt.“ Der eigenen Antwort schickt Holmes sogleich hinterher: „Das habe ich nie bezweifelt.“ Damit erklärt er ohne Umschweife Watsons Observation für sinnlos. Aber er solle nicht so niedergeschlagen dreinblicken, besänftigt Holmes den Doktor. Er wolle nun selbst ein paar Ermittlungen anstellen.
Die Scham, die John Watson in diesem Moment empfinden mag, lässt sich leichthin erahnen. Und als wäre dies nicht genug: Auf die nächste Reise nach Surrey begibt sich Holmes ohne seinen treuen Gefährten. Es ist aus der Geschichte nicht ersichtlich, ob Watson verhindert ist oder Holmes allein ermitteln will. Ich tendierte zur zweiten Möglichkeit. Allerdings lässt Conan Doyle uns nicht mit einer stumpfen Zurechtweisung seitens Holmes zurück. Nein, auch Sherlock Holmes wird kurz vor dem Finale einen Fehler bekennen. „Zu spät, Watson! Zu spät“, ruft Holmes auf dem Weg nach Charlington aus. „Welch ein Narr ich war, den früheren Zug nicht in Betracht zu ziehen! Entführung! Mord!“ Zunächst wirkt es wie ein Zugeständnis im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit. Aber die Fans von Doyles Geschichten wissen, dass die Beziehung der beiden Gefährten längst über profanes Aufrechnen hinausreicht. Ihre Freundschaft ist keineswegs blind gegenüber persönlichen Irrtümern und Fehltritten. Längst wird ihre Beziehung von Reife, Einverständnis und Akzeptanz geprägt. Immerhin spielt die Geschichte der einsamen Radfahrerin im Jahr 1895, also vierzehn Jahre nach ihrer ersten Begegnung.
Kurz vor dem Showdown bietet Doyle noch einen feinen Twist, der auch unseren Verkleidungskünstler Holmes erfreuen dürfte. Überhaupt schien der Autor bemüht, die Geschichte rund zu gestalten. Zum Schluss erwähnt Watson ein paar letzte Notizen aus seinen Aufzeichnungen, die uns das weitere Schicksal der Figuren darlegen. Mit böser Zunge kann man den Text als allzu gefälliges Stück bezeichnen. Doyle selbst war nicht zufrieden mit seinem Werk und hielt die drei Stories*, die den Band anführen, für gelungener. An mir blättert seine Selbstkritik jedoch spurlos ab. Von seinen 56 Kurzgeschichten aus der Welt des Sherlock Holmes ist und bleibt Die einsame Radfahrerin eine meiner liebsten.
Postskriptum:
Daneben bietet die Geschichte noch sehr viel mehr und wahrscheinlich relevantere Themen, die eine Abschweifung wert sind. Beispielsweise das Bild der Radfahrerin an sich. In einem Beitrag las ich neulich von der emanzipatorischen Wirkung des Radfahrens und seiner Relevanz in der damaligen Frauenbewegung. So galt eine Frau auf dem Fahrrad im späten 19. Jahrhundert noch als Provokation.
*Das leere Haus, Der Baumeister von Norwood, Die tanzenden Männchen