Heiden guckt „Der Wachsblumenstrauß“ 2006

Dass der Schauspieler David Suchet den berühmten Detektiv werkgetreuer und detailversessener als jeder andere verkörperte, steht außer Frage. Von 1989 bis 2013 spielte er Hercule Poirot in siebzig Episoden. Doch seine Darstellung allein als exakte Adaption zu würdigen, greift zu kurz. So wie Peter Ustinov der Rolle seinen ureigenen Humor aufdrückte, so verlieh David Suchet seinem Poirot eine Schwere, gegen die sich die kleinen graue Zellen kaum (besonders in den späteren Folgen) erwehren konnten.

Von einer solchen Melancholie findet sich in Agatha Christies Romanen nur wenig, wenn auch ihre letzten Werke düsterer wirken. Ich vermute, David Suchet formte Poirot nicht allein aus den Hinweisen, die Agatha Christie über den eierköpfigen Belgier streute, sondern zum Großteil aus den Stoffen an sich. Sein Poirot scheint ganz und gar ein Resultat dessen, was der lebenslange Umgang mit Lug und Trug, Tod und Verderben herausbeschwört.

David Suchet als Hercule Poirot

Die Verfilmung des Romans Der Wachsblumenstrauß aus dem Jahr 2006 ist im Vergleich zum Margaret Rutherford Vehikel nahezu originalgetreu. Natürlich erlaubt sich das Drehbuch Änderungen, die wohl der Dramaturgie und dem schier unerschöpflichen Personal der Vorlage geschuldet sind. Beispielsweise reduzierte die Autorin Philomena McDonagh einen bei Agatha Christie weitverzweigten Stammbaum auf eine einzige Familie. Das erleichtert den Überblick enorm. Sofern die Abweichungen für mich Sinn ergeben, kann ich mich damit rasch anfreunden. Meines Erachtens hat Philomena McDonagh ein wunderbares Drehbuch verfasst.

Einen exemplarischen Wandel widerfuhr der Figur des George Crossfield. In der Verfilmung heißt er mit Nachnamen Abernethie – so wie das verstorbene Familienoberhaupt, dessen Beerdigung dem Original den Titel schenkt. In der britischen Ausgabe After the funeral, in der US-amerikanischen Funerals are fatal. George Abernethie wird von Michael Fassbender dargestellt, und das auf eine Weise, die meinen Artikel erst möglich macht. Fassbenders expressiver Auftritt bietet einen Kontrapunkt zu David Suchets dezenter Spielweise, und zugleich verleihen beide Schauspieler den Figuren Charakterzüge, die im Buch nicht zu finden sind.

Michael Fassbender als George Abernethie

Agatha Christies Roman ist im tristen England der Nachkriegsjahre verortet. Hier befindet sich Hercule Poirot längst im Ruhestand; für die jüngere Generation scheint sein Name und sein Wirken sogar fremd. Die Serie Agatha Christie’s Poirot ist dagegen um 1936 angesiedelt, eine Zeit, in welcher der Name des Detektivs vielerorts Bekanntheit genießt. „Wie aufregend“, heißt es, nachdem Poirot sich vorgestellt hat, „Sie sind beängstigend berühmt.“

Hercule Poirot trifft auf George Abernethie

Bei der ersten Begegnung zwischen ihm und George Abernethie wird er vom Familienanwalt mit den Worten „Das ist Hercule Poirot“ eingeführt. „Ich habe ihn gebeten, in dem Fall zu ermitteln.“

„Ich wusste nicht“, erwidert George prompt, „dass du so berühmte Freunde hast.“

Darauf lächelt Poirot verhalten.

„Wie geht’s, Poirot?“ George spricht ihn ohne Scheu an, wobei seine Frage geradezu konfrontativ wirkt. Er zerrt den Detektiv aus der Position des teilnahmslosen Beobachters hinein ins Zentrum des Geschehens. Poirot, der bis zu seinen Plädoyers am Ende eines Falls eine solche Position zu vermeiden sucht, reagiert mit höflicher Reserviertheit. George hingegen kleidet sich in Nonchalance. Der junge Mann wirkt gut gelaunt, eventuell sogar manisch. Aber ein Hercule Poirot lässt sich von diesem Verve nicht aus der Ruhe bringen; stattdessen spielt er gekonnt den Ball zurück. Angeblich war George während des Dahinscheidens seines Onkels bei einem Pferderennen. Poirot fragt ihn nun ebenso direkt, wie ihn zuvor George angesprochen hatte, auf welche Pferde er gewettet habe. Ihre Blicke treffen aufeinander, und aus Georges Gesicht verschwindet jede Sorglosigkeit. Poirot, unverändert ruhig und fokussiert, hat ihm sprichwörtlich im Visier. Schon bei dieser Begegnung scheint er dem Verdächtigen mitteilen zu wollen, dass er ihm nichts vorgaukeln könne. Um ein solches Verhältnis zu etablieren, genügte den beiden Schauspielern ein Blickwechsel und ein kurzer Dialog.

George Abernethie reagiert auf Poirot

Worin unterscheidet sich nun die literarische Figur von der filmischen? In Agatha Christies Roman reagiert George eher argwöhnisch auf die Tatsache, dass Hercule Poirot ein Detektiv sei. Dieser George wirkt schroff, ungehobelt und bar jeden Mitgefühls. An einer Stelle heißt es: „George war des Mordes fähig. So wie eine Ratte zuschlägt, die in die Enge getrieben wird.“ Eine Bezichtigung, die sich kaum mit der filmischen Variante assoziieren lässt. Ich lernte George Abernethie als einen Getriebenen kennen, einen, der bereits in einer seiner ersten Szenen betrunken auf einer Parkbank erwacht. Ein Flachmann ist sein treuer Begleiter, die Zigaretten raucht er mit einem Mundstück. Statt einfach auf einem Sessel zu sitzen, hängt er buchstäblich in den Polstern, und während Poirot jede Stufe mit beiden Füßen nimmt, gleitet George durch die Räume. Der Film vermittelt Eindruck, George Abernethie sei von ruheloser Natur, wohlgemerkt, bis an die Grenze zur Selbstzerstörung.

In familiärer Runde kommt das Gespräch auf den Charakter der verstorbenen Cora Gallaccio (im Roman Cora Lansquenet). Selbst nach ihrer Ermordung wird über die Frau abfällig gesprochen, und lediglich George wirkt dem entgegen: „Sie schien mir eine Person zu sein, die keinen Penny auf Konventionen gibt; ihr war alles egal. Bewundernswert, würde ich sagen. Und sehr erfrischend.“ Es scheint allzu offensichtlich, dass George über sich selbst spricht und darüber hinaus eine Botschaft an eine andere Person richtet.

George Abernethie im Haus von Miss Gilchrist

Sobald seine Cousine in der Nähe ist, gewinnt sein Gebaren provokant laszive Züge. Als Susannah verschüchtert ein Aktbild betrachtet, fragt er sie freimütig, weshalb sie immer so prüde ist. Dabei grinst er lüstern, fast schon herausfordernd. George ist offenkundig ein Provokateur. Und ein Alkoholiker. Auch im Zwiegespräch mit seiner Mutter – vor der er zutiefst enttäuscht ist, da sie ihn über Jahre hinweg belog – forciert er dieses Bild. George fühlt sich verletzt und will im Gegenzug selbst verletzten, insbesondere jene Menschen, die ihm nahestehen.

All diese Beispiele lassen auf einen Charakter ohne jede Contenance schließen. Ein Leben, gelenkt von Leidenschaft, ein Leben auf der Kippe. Neben der kaputten Beziehung zu seiner Mutter quält George obendrein eine „verbotene“ Liebe. Angesichts der anderen Familiemitglieder drängt sich für ihn die Rolle des Affektmörders geradezu auf. Zur Erinnerung: Seine Tante Cora wurde mit einer Axt ermordet. Doch obgleich das Drehbuch ihn immer wieder zum Verdächtigen stilisiert, hatte ich nie den Eindruck, Poirot würde die Option ernsthaft in Betracht ziehen. Nein, nicht Hercule Poirot.

Auf dem Anwesen Enderby Hall

Zum Ende hin bestreiten David Suchet und Michael Fassbender eine Szene vollkommen allein. Beide stehen im Eingang von Enderby Hall – rauchend, einander zugewandt, der jeweils andere zum Berühren nahe. Der Detektiv mustert den Verdächtigen, seine Gesten, seine Mimik, lauscht aufmerksam seinen Worten. In diese Szene ist ein Rückblende eingebaut, eine Erzählung aus Georges Blickwinkel. Dabei äußert er: „Mein ganzes Lebens ist nichts als eine einzige Lüge.“ Poirot widerspricht ihn nicht. Seine Augen ruhen unbeirrt auf Georges Gesicht, während der junge Mann zur Seite schaut. Was Poirot in jungen Jahren, also vor seiner Londoner Zeit beeinflusste, hat Agatha Christie nur bruchstückhaft verraten. Wie bereits erwähnt, beweist David Suchet große Kunstfertigkeit darin, sich nicht von Christies spärlichen Hinweisen zu entfernen. Er bleibt dicht bei der Figur, setzt kleinste Gesten pointiert und vermag in den richtigen Momenten zu schweigen, sodass es mir in den Ohren rauscht. Andererseits schöpfte der Schauspieler aus der Figur eine Tragik, die zu vielerlei Mutmaßungen einlädt.

Poirot lauscht George Abernethies Geständnis

Im Schatten von Enderby Hall vermitteln Poirots wachsamer Blick und seine spürbare Ruhe ebenso Empathie, womöglich sogar Bewunderung. Für mich – und das ist nur eine Interpretation – verkörpert George Abernethie eine verborgene Sehnsucht des Detektivs. Die Sehnsucht, jedes Kostüm abzustreifen, eben nicht nur die Heißblütigen zu studieren, sondern es ihnen gleichzutun. Letztlich lässt sich unter Poirots Selbstbeherrschung eine noch viel größere Tragik vermuten. Das alles bleibt jedoch reine Spekulation. Eines scheint dagegen unzweifelhaft: Poirot zeigt sich oftmals gütig gegenüber den Strauchelnden, ganz gleich, ob sie sich als Täter oder Täterinnen entpuppen. Wie sagt er zu Miss Gilchrist, als sie ihm von ihrem verlorenen Traum erzählt? „Die Reise des Lebens ist manchmal hart für die einsamen Seelen unter uns.“

Postskriptum:

Ebenso wie Michael Fassbender ist Monica Dolan in der Rolle der Miss Gilchrist hervorzuheben. Ihre Darstellung ist meines Erachtens exzellent und kann nicht genug gewürdigt werden. Leider verfasste die Autorin und Schauspielerin Philomena McDonagh kein zweites Drehbuch für die Reihe Agatha Christie’s Poirot.