Young Sherlock Holmes präsentiert uns ein ganzes Kabinett an originellen Charakteren – von John Watson, Sherlock Holmes und Elisabeth Hardy über Inspector Lestrade hin zu Chester Cragwitch. Mit meiner Abschweifung will ich mich einer Nebenfigur widmen, die mich bereits in Kindertagen zu faszinieren wusste.
Rupert T. Waxflatter. Auch wer den Namen zum ersten Mal hört, der kennt zumindest – und das mit hoher Wahrscheinlichkeit – einen seiner vielen Verwandten. Zum Beispiel Doktor Emmett Brown aus dem Film Zurück in die Zukunft oder Wolfgang Müller, der blitzgescheite Junge aus dem Science-Fiction Abenteuer Explorers. Vielleicht erinnert ihr euch auch an Richard Wang alias Data, dessen Gadgets eine Clique namens Die Goonies mehr als einmal aus der Bredouille befreien. Am Ende der 1980er Jahre gesellte sich noch Wayne Szalinski in die Runde; seine Erfindung lässt seine Kinder und die seiner Nachbarn auf Insektengröße schrumpfen. Ebenso wie diesen Beispielen haftet Rupert Waxflatter der Ruf eines spleenigen Wissenschaftlers an. Allzu gern würde ich an dieser Stelle ein paar weibliche Pendants aufzählen, aber die damalige Filmwelt hatte nichts oder allenfalls sehr wenig übrig für verrückte Professorinnen. Das ist so ernüchternd wie beklagenswert, da diese Figur, insbesondere die liebenswerte Variante aus den 80er Jahren, einen festen Platz in der Popkultur einnimmt.
Um Rupert T. Waxlatter zu begegnen, müssen wir tiefer in die Vergangenheit reisen, als es Doc Brown im dritten Teil der Zurück in die Zukunft–Trilogie tut. Wir landen im Jahre 1870, in dem ein gewisser John Watson nach Brompton, einer Londoner Knabenschule, kommt. Es wird noch über ein Jahrzehnt dauern, bis dieser Watson den Titel eines Doktors vor dem Namen tragen darf. Immerhin lernt er gleich an seinem ersten Tag einen Mitschüler namens Sherlock Holmes kennen. Als Watson sich im Unterricht nach Holmes Freundin erkundigt, hören wir zum ersten Mal von Rupert T. Waxflatter. „Sie heißt Elisabeth“, sagt Holmes. „Seit dem Tod ihrer Eltern lebt sie hier bei ihrem Onkel, einem pensionierten Lehrer.“
In mir weckt diese Szene Erinnerungen an den Film Zurück in die Zukunft. Bevor wir Dr. Emmett Brown zum ersten Mal begegnen, bringen wir bereits einiges über ihn in Erfahrung. Wir können beobachten, wie sein Freund Marty McFly in seinem eigenen Haus nach ihm sucht. Überall herrscht Chaos; so häuft sich auf dem Boden verschmähtes Hundefutter, während der Toaster verbranntes Brot ausspuckt. Im Grunde findet hier die Einführung einer Figur in Abwesenheit der Figur statt. In Eine Studie in Scharlachrot, dem ersten Sherlock Holmes Roman, wird Dr. Watson noch vor der ersten Begegnung mit seinem zukünftigen Mitbewohner über dessen Charakter aufgeklärt. Wir sehen: Die Methode hat Tradition.
Als Doc Brown endlich auf der Bildfläche erscheint, erleben wir ihn sogleich in seinem Element: Bei der Präsentation einer Erfindung, genaugenommen einer Zeitmaschine, eingebaut in einen DeLorean. Mit Professor Waxflatters Einstand verhält es sich kaum anders. Holmes, Watson und Elisabeth befinden sich gerade auf dem Schulhof, als vom Dach des Seitenflügels ein Mann hinunterruft.
„Elisabeth! Holmes! Ich glaube, ich habe alle Probleme gelöst.“
Auf Watsons Frage, wer das sei, antwortet Elisabeth, dass es sich um ihren Onkel handelt. Holmes ergänzt daraufhin:
„Rupert T. Waxflatter, pensionierter Lehrer. Unterrichtete Chemie und Biologie. Sehr versiert in Philosophie, Mathematik und Physik. Verfasser von siebenundzwanzig Büchern.“
„Unglaublich.“
„Und viele halten ihn für einen Spinner.“
Kaum ausgesprochen, dürfen wir mit eigenen Augen sehen, worauf Elisabeths Kommentar abzielt. Vom Dach der Schule erhebt sich ein sonderbares Fluggerät. Zwei mit Leder bespannte Flügel schlagen auf und ab, darunter zwei Räder in der Größe von Fahrradreifen und eine Sitzmöglichkeit. Ein Pilot bringt die Flügel zum Schwingen, indem er eifrig in die Pedale tritt. In seiner Gesamtheit ähnelt die Konstruktion der von Leonardo da Vinci erdachten Maschine, die den Vogelflug nachahmen sollte. Heute wissen wir, dass da Vincis Erfindung in der Realität nicht funktionieren würde. Für die Kinder der Brompton Academy liegen solcherlei Bedenken allerdings in weiter Ferne. Unten im Schulhof folgen sie mit verblüfften Gesichtern der Flugbahn, belohnen das waghalsige Unternehmen mit Applaus und Jubelgeschrei. Nach wenigen Sekunden in den Lüften landet der Flugapparat samt Piloten krachend in einer Baumkrone. Elisabeth, Holmes und Watson eilen zur Absturzstelle.
Nun können wir den Erfinder aus nächster Nähe betrachten. Der Mann trägt einen Hut mit Schirm und Ohrenklappen, ein sogenannter Deerstalker, wie er Sherlock Holmes in unzähligen Filmen aufgezwungen wird. Eine Nickelbrille und ein ergrauter Bart vermitteln uns den Anschein von Intellekt und Reife. Um seinen Hals windet sich ein ellenlanger Wollschal, und seine Handschuhe sind auf halber Fingerhöhe abgeschnitten. Diese Aufmachung betont die Aura des Underdogs, zweifellos eine Alternative zu den steifen Würden- und Rockträgern der viktorianischen Epoche. In Sachen Kleidung reiht sich Rupert Waxflatter nahtlos in die Riege unserer modernen Garagenerfinder ein. So bildet die Garderobe des jugendlichen Günther Müller aus dem Film Explorers einen Kontrast zu dem Outfit seiner Freunde: Sakko, Krawatte und Bundfaltenhose anstatt Parka, Poloshirt und Jeans. Doc Brown entsteigt seiner Zeitmaschine in einem Strahlenschutzanzug, und nicht zufällig erinnert seine Dirigentenmähne an Albert Einstein, dem Posterboy der Wissenschaft. Data von den Goonies trägt hingegen einen mit Aufnähern bestickten Mantel. Seine Jeans wird von einem Allzweckgürtel festgehalten, der mit allerlei Gadgets bestückt ist. Gadgets – so nennt man kleine technische Spielereien. Schnickschnack. Beispielhaft sind hierfür Datas aus dem Mantel springender Boxhandschuh oder sein künstliches Gebiss, das ihn bei einem Sturz als Rettungshaken dient.
Neben ihrer auffälligen Kleidung vereint diese Figuren obendrein ein besonderer Wesenszug: Nämlich ihr scheinbar grenzenloser Enthusiasmus. Dass sein Flugapparat bei dem Experiment zu Bruch ging, stimmt Rupert Waxflatter keineswegs traurig. Nach sechs fehlgeschlagenen Versuchen spricht er unbeirrt von einem hoffnungsvollen Anfang. „Wir geben uns nicht geschlagen“, verkündet Waxflatter, während er mithilfe von Watson, Holmes und seiner Nichte den ramponierten Flugapparat in seine Werkstatt transportiert. Nach dem Versuch bedeutet hier vor dem Versuch. Genauso wie John Watson den Dachboden erstmalig betritt, begeben auch wir uns in die Welt des Professors: Mit staunendem Blick, gespitzten Ohren und offenem Mund.
Hier drehen sich kreisrunde Räder, dort mehrflächige Flügelräder und – dem Geräusch nach zu urteilen – irgendwo auch Zahnräder. Die Backsteinwände sind bis unter die Decke vollgestellt mit Materialien und obskuren Erfindungen. Gegenüber einem gusseisernen Ofen findet sich gerade noch Platz für eine Hängematte. Eine Werkstatt oder ein Labor oder eben beides vereint auf einem Dachboden gehört wohl zur Grundausstattung eines verrückten Wissenschaftlers. Im Gegensatz zu Doktor Frankenstein, der uns mit Gefäßen voller Organe und fehlgebildeter Kreaturen das Gruseln lehrt, verblüfft uns Professor Waxflatter mit allerlei kinetischen Apparaturen. Ob diese Geräte letztlich eine Funktion erfüllen, scheint zweitrangig. Wichtig ist allein, dass sie Geräusche verursachen, dass es Klick und Klack macht, dass das Ticken von Motoren und Uhrwerken den Raum erfüllt. Dazu in den Reagenzgläsern das Blubbern bunter, schwefliger Säuren und in einem Kamin bestenfalls das Knistern eines Feuers. Sherlock Holmes sagt zu Watson, dass er in dieser Werkstatt viele glückliche Stunden verbracht hat. Das können wir nachvollziehen. Ein solches Ambiente vermag rasch das Kind in unserem Innern wiederzubeleben. Aber warum bringt uns ausgerechnet die Heimstätte eines Eigenbrötlers noch nach vielen Jahren zum Lächeln oder gar Staunen?
Nicht anders als das Klischee eines verrückten Professors verlangt, erscheint uns Rupert Waxflatter exzentrisch, kauzig, ja weltfremd. Dennoch ist Waxflatter kein Doktor Frankenstein, der den ethischen Grenzen abschwört, kein Herbert West, der an der Miskatonic University seinen kruden Operationen nachgeht, und auch kein Seth Brundle, dessen Experimente mit der Teleportation ein Mischwesen aus Mensch und Fliege kreieren. Waxflatter und Co. bilden vielmehr eine Familie mit einem gewissen Daniel Düsentrieb (nebenbei bemerkt: ein Huhn, das nicht fliegen kann). Im amerikanischen Original ist Daniel Düsentriebs Name eine Anspielung auf die Redewendung Eine Schraube locker haben, was uns wieder zu Elisabeths Kommentar führt. „Viele halten ihn für einen Spinner.“ Meines Erachtens verfügt Rupert Waxflatter über ein ungleich kindlicheres Gemüt als die Ikonen des Horrorfilms. Womöglich liegt genau in dieser Eigenschaft auch ein Teil der Antwort.
Die Liebesnöte, mit denen sich der jugendliche Marty McFly herumschlagen muss, befremdeten mich als Kind. Coole Klamotten anziehen. Der Wunsch, von jemand anderem begehrt zu werden. Kesse Sprüche und Telefonnummern austauschen. Flirrten, bis man der Bibliothek verwiesen wird. Dagegen bot mir Doc Brown, der zumindest in den ersten beiden Teilen der Filmtrilogie allein der Wissenschaft dient, ein geeignetes Rollenmodell. Ein gelehrter und immerfort wissbegieriger Mensch, in seiner Verschrobenheit liebenswert und auf körperlicher Ebene harmlos. Absolut keine Bedrohung für ein vorpubertäres Kind. Es ist kein Zufall, dass insbesondere Kinder diesen Charakteren sehr viel Sympathie entgegenbringen. Das sind Charaktere, die in ihrer filmischen Realität als Witzfiguren verunglimpft werden und sich dennoch von fantasielosen Mitmenschen nicht ihrer Träume berauben lassen. Die Werkstätten, die Labore, die Dachböden mit all den kniffligen und oftmals sinnfreien Apparaturen stellen einen Rückzugort dar. Und für Kinderaugen eine Art Wunderkammer? Ein Mitmach-Museum mit der Option, ins größte Abenteuer deines Lebens zu springen.
So gern ich an diesem Punkt enden würde, so wichtig ist mir eine letzte Anmerkung. Eines unterscheidet Rupert T. Waxflatter dann doch von seiner Verwandtschaft: Die ehemaligen Schüler, die seine Versuche unermüdlich mit Applaus würdigen, wissen nicht um seine finstere Seite. Allein John Watson und Sherlock Holmes erhalten Einblick in Waxflatters Vergangenheit, deren Schatten über das Jahr 1870 hinausreichen. Die Rede ist von Kolonialismus, Aufruhr und Verschwörung. Von einer Geldgier, die den Tod unschuldiger Menschen verursacht. Diese Vergangenheit verleiht Young Sherlock Holmes eine dunkle Note und hebt ihn letztlich von den zuvor genannten Filmen ab. Eventuell war die Wendung von einem arglosen Coming of Age–Abenteuer hin zu einer Geschichte geprägt von Lug und Trug, Verlust und Reue der Grund für die bescheidenen Einnahmen. Young Sherlock Holmes war ein Flop an den Kinokassen. Der Roman zum Film, der hierzulande unter dem Titel Das Geheimnis des verborgenen Tempels veröffentlicht wurde, widmet Waxflatters Vergangenheit sogar ein ganzes Kapitel. Das Ausmaß und die Tiefe dieser Rückschau hätten, so vermute ich jedenfalls, die Konventionen eines kindgerechten Hollywoodmärchens gesprengt.
Meine kleine Abschweifung soll allerdings nicht mit Waxflatters dunkler Vergangenheit enden; viel lieber will ich an einen vergnüglichen Moment aus diesem so häufig unterschätzten Film erinnern: Waxflatter betritt einen Trödel- und Antiquitätenladen, wobei die Glocke über der Eingangstür anschlägt. Wie ein Kind kommentiert er das Klingelgeräusch, indem er ein fröhliches „Ding-Dong, Ding-Dong“ verlauten lässt. Für mich offenbart sich in dem Ausruf all seine Lebensfreude. Einfach Ding-Dong, Ding-Dong.